Kreativität in der Wildnis

Kreativität in der Wildnis

Interview mit der Tieraktivistin und Künstlerin Carol Gigliotti

Susanne Karr

Viele Menschen sehen in Tieren Begleiterscheinungen der Evolution, die ihren Höchststand im Menschen erreicht hat. Dieser Blickweise entgehen die faszinierenden Verhaltensweisen von Tieren, die uns vollkommen fremd sein können, aber auch sehr nah. Carol Gigliotti dekonstruiert in ihrem Buch The Creative Lives of Animals (New York University Press 2022) unsere Einbildung, als einzige Lebewesen zu komplexer Weltwahrnehmung fähig zu sein.

Susanne Karr: Als Künstlerin und Professorin für Design und Medien macht es Sinn, Kreativität zu untersuchen. Ebenso, dass Sie sich als Tierforscherin und -aktivistin mit dem Verhalten von Tieren beschäftigen. Aber warum ist Kreativität in Bezug auf Tiere so wichtig?

Carol Gigliotti: Oft wollen Leute, dass ich Kreativität definiere, oder sie fragen, wie ich dazu gekommen bin, mich mit Tieren zu befassen, ohne Biologin zu sein. Ich gehe von meiner Wahrnehmung als Professorin und von meiner Erfahrung mit Mensch-Tier-Beziehungen aus. Was Biologie und Psychologie betrifft, so beziehe ich mich auf Studien von Wissenschaftler*innen, die sich jahrelang oder ihr ganzes Leben mit Tieren beschäftigt haben.

Karr: Gestehen Sie Tieren zu, kreativ zu sein, weil Sie sich auf eine umfassendere Definition von Kreativität stützen?

Gigliotti: Eine Erkenntnis aus meiner Lehrtätigkeit ist, dass es verschiedene Arten von Intelligenz gibt. Es war offensichtlich, dass einige Student*innen sehr intelligent waren, doch sie konnten dies nicht auf einem theoretischen Level unter Beweis stellen. Sie verstanden nichts, bevor sie mit der praktischen Umsetzung eines Projekts begannen – sie hatten eine andere Wahrnehmung, näherten sich auf ihre eigene Art und Weise der Thematik an.

Karr: Ihre Interpretation von Kreativität hat also mit Intelligenz zu tun?

Gigliotti: Manche Menschen lernen durch Sehen, andere durch Tun, wieder andere lernen nur durch Hören. Howard Gardner hat neun verschiedene Arten von Intelligenz beschrieben,1 darunter auch die kinästhetische. Diese verstehen nur wenige von uns – außer Tänzer*innen und Athlet*innen natürlich. Das zeigt, wie viele unterschiedliche Formen von Intelligenz und Verständnis für die Welt auch bei Menschen existieren.
Von hier aus habe ich mich dem Thema genähert. Tiere müssen Dinge auf andere Weise verstehen als wir, sie geben der Welt einen eigenen Sinn, alleine schon, weil sie andere Wahrnehmungsmöglichkeiten haben. Die visuelle Wahrnehmung etwa ist bei einigen Tieren ganz anders als bei uns. Wir halten unsere Farbeindrücke für selbstverständlich, obwohl wir wissen, dass die Farbe, die wir zu sehen glauben, physikalisch gesehen gar nicht diese Farbe ist. Tiere verfügen über fantastisch anmutende Arten von Sinnen, man denke nur an die Echoortung und Ultraschallkommunikation bei Delfinen oder die Magnetfelderkennung bei Schildkröten und Zugvögeln. Von manchen Sinnen wissen wir nicht einmal, dass es sie gibt. Und wir verstehen sie natürlich auch nicht wirklich.

Karr: In Ihrem Buch begegnen wir Kreativität, was Architektur betrifft, etwa die Bauten von Bienen oder Ameisen oder die Nester von Vögeln. Sie schreiben auch über sexuelle Variationen bei Delfinen oder Spinnen oder die extravaganten Choreografien von Paradiesvögeln. Außerdem präsentieren sie intellektuelle Leistungen, etwa bei Ayumu, einer Schimpansin in einer japanischen Forschungseinrichtung. Diese übertrifft Menschen in ihrer Fähigkeit, sich kurz aufleuchtende Zahlen in Millisekunden einzuprägen und deren Position zu erinnern. Erinnerungsvermögen ist also ein weiteres Merkmal von Kreativität und Intelligenz.

Gigliotti: Diese Ergebnisse deuten nicht nur auf eine beeindruckende Intelligenz hin, sondern werfen auch die Frage auf: Welche Art von Intelligenz können Tiere zeigen, wenn sie nicht in Gefangenschaft leben? Wie würde sich die Intelligenz der Schimpansen in anderen Umgebungen ausdrücken – in den Wäldern und Dschungeln, aus denen wir sie geholt haben? Man kann davon ausgehen, dass sie sich an Verwandte oder Feinde erinnern, selbst wenn sie sie eine Weile nicht gesehen haben. Das tun auch Hühner, um eine andere Tierart hier anzuführen. Das Huhn ist eines der am meisten unterschätzten und misshandelten Tiere.
Forscher*innen haben herausgefunden, dass ein Huhn mindestens 100 einzelne Individuen unterscheiden kann und die Eigenheiten ihrer Gesichtszüge erkennt. Hühner verwenden mindestens 30 verschiedene Vokalisationen. Ihre Lebensweise in der Gruppe wird sozial organisiert, manche sagen „diplomatisch“, wenn sie in einer offenen Umgebung leben, wie Annie Potts in ihrem Buch Chicken deutlich macht.2 Menschen, die persönlich mit Hühnern zu tun haben, wissen das natürlich.

Karr: Zahlreiche Untersuchungen haben für bestimmte Vögel, Delfine und Affen deutlich gemacht, dass sie Selbstbewusstsein besitzen. Würden Sie dies auch auf Hühner übertragen?

Gigliotti: So wie andere Mitglieder der Vogelfamilie, die Tauben, haben Hühner ein Verständnis für das Zählen und die Grundrechenarten. Sie verwenden Syntax, Semantik und Verweise auf andere. Um in der Lage zu sein, auf so komplexe Weise zu kommunizieren, müssen sie über Selbstbewusstsein verfügen und die Fähigkeit besitzen, die Perspektive eines anderen Tiers einzunehmen. Damit werden sie Teil der „Theory of Mind“, die früher ausschließlich den Menschen vorbehalten war. Die „Theory of Mind“ beschreibt Fähigkeiten wie Perspektivenübernahme und das Zuschreiben mentaler Zustände, also die Fähigkeit, sich in innerpsychische Vorgänge, wie Wünsche und Überzeugungen, von anderen hineinzuversetzen.

Karr: Sie berichten auch über die kreative Weiterentwicklung lautlicher Symbolisierung von Fressfeinden bei Präriehunden: Im Versuch wurden diese mit zweidimensionalen Silhouetten konfrontiert, die so ähnlich wie Kojoten aussahen. Die Präriehunde erfanden dafür einen neuen Ausdruck, angelehnt an ihren Laut für echte Kojoten. „Etwas Neues oder bisher Ungesehenes zu beschreiben, indem man zwei oder mehr bekannte, mit Bedeutung aufgeladene Wörter oder Bilder kombiniert, ist eine gängige kreative Tätigkeit“, schreiben Sie.

Gigliotti: Ähnliches lässt sich bei vielen Tierarten beobachten, etwa bei Kojoten – wenn man sich die Mühe macht, genau hinzusehen und -zuhören. Diese Tiere leben in Gemeinschaften – da ist es doch klar, dass sie kommunizieren.

Karr: Einer der Nebeneffekte Ihrer Art, die Fakten darzustellen, mutet ein wenig wie ein Bumerang an: Er führt dazu, dass die menschliche Perspektive infrage gestellt wird. Warum sollen Tiere menschlichen Maßstäben entsprechen?

Gigliotti: Als ich über Gentechnologie und Tiere forschte, erkannte ich, dass sich Wissenschaftler*innen, die sich mit Transgenen und Biotechnologie beschäftigen, für sehr kreativ und fortschrittlich halten. Ebenso Künstler*innen in der Bio-Art. Aber warum sollte man die Genetik eines bestimmten Tiers verändern, damit es das tut, was man will? Was hat es mit dem Topos von der Koppelung Kreativität und Fortschritt auf sich? Dieser bedeutet im Gegenschluss, dass man, wenn man nichts Neues erfindet, nicht kreativ sei. So wie ich befassten sich einige Forscher*innen aus der Biologie und Psychologie kritisch mit diesem Kreativitätsbegriff. Erst im weiteren Verlauf des Buchs begann ich, über den Beitrag zu schreiben, den Tiere als Individuen, Gruppen, Kulturen und Arten zur biologischen Vielfalt leisten. Dass sie wirklich der Motor der biologischen Vielfalt sind. Und dass wir ohne sie aufgeschmissen wären.

Karr: Man gewinnt den Eindruck, dass es viele Realitäten gibt, die wir mit unserer anthropozentrischen Einstellung nicht wahrnehmen. Häufig hat dies destruktive Auswirkungen auf Natur und Tierwelt – und somit auch die menschliche Lebenswelt, was meist ausgeblendet wird.

Gigliotti: Für die Zuerkennung von Agency ist es notwendig, Tiere als individuelle Persönlichkeiten zu sehen, unabhängig von Zuschreibungen, die sich meist rein auf den Nutzen für die Menschen beziehen. Der Gedanke, dass Tiere für sich selbst Bedeutung generieren, ist entscheidend. Denn um sich selbst einen Sinn zu geben, muss man intelligent, kreativ und selbstbewusst sein – alles Dinge, die wir meist nur an Menschen schätzen.
Leider behandeln wir auch Menschen oft so, als ob ihr einziger Wert darin bestehe, was sie für uns tun können. Die Beziehung zu anderen ist nicht gleichwertig, sondern hierarchisch geprägt. Man muss als Tieraktivist*in davon ausgehen, dass es abwertendes Verhalten auch gegenüber anderen Menschen gibt. Und wie fühlt man sich, wenn man ausgebeutet oder für minderwertig gehalten wird? Frauen verstehen das oft auf andere Weise als Männer. Es gibt immer noch dieses Gefälle von Macht, und wir sind immer noch keine gleichberechtigte Gesellschaft.

Karr: Das ist der Moment, in dem man zu erkennen beginnt, dass die Diskussion über unsere Beziehungen zu Tieren einen im Wesentlichen politischen Charakter hat.

Gigliotti: Traditionelle Vorstellungen prägen die Gesellschaft langfristig. Stark hierarchisch beeinflusst ist etwa die immer noch weitverbreitete Meinung, dass es in Wolfsrudeln Alpha-, Beta- und Omega-Persönlichkeiten gibt, obwohl mehrfach gezeigt wurde, dass dies nicht stimmt. Die Rollen in den Rudeln sind eher fließend, so wie Stimmungen. Jedes Individuum wird sowohl vom Temperament, das heißt von ererbten Tendenzen, als auch vom Charakter, das heißt von erlernten Bewältigungsstilen, beeinflusst. Wolfsrudel bestehen aus Familienmitgliedern. Situationen und Ergebnisse der Familiendynamik können die Gesamtpersönlichkeit eines Individuums verändern. Es gibt auch Studien über die Persönlichkeit von Fischen, die ich beschreibe und die zeigen, wie sich einige schüchterne Fische in mutige Fische verwandeln können, wenn sie von anderen schüchternen Fischen umgeben sind. Wie in menschlichen Gesellschaften ändern Individuen manchmal ihr Verhalten, um sich den Umständen anzupassen.

Karr: Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Sinneswandel, weg von traditionellem Hierarchiedenken, zu vollziehen. Ein Teil der jüngeren Generation will sich nicht in das bestehende System einpassen. Es tut sich hier vielleicht eine Lücke auf, die nicht mit linearem Fortschrittsdenken gefüllt werden kann, wo man aber vielleicht andere Bilder und Erfahrungen vermitteln kann bzw. das Bewusstsein und die Emotionen anderer stärker miteinbezieht.

Gigliotti: Das sehe ich auch so. Viele junge Leute haben Dinge erlebt, die sie verändert haben. Erstens sind sie an die neuesten Technologien gewöhnt, das ist für sie keine große Sache mehr, nicht so aufregend. Zweitens, und das gilt eher für die USA, sind sie einer hohen Gewaltbereitschaft ausgesetzt, man denke nur an die vielen Schießereien. Aber drittens, und das ist ganz entscheidend, haben sie ein Gespür für die Umwelt und verstehen, dass es einige Pflanzen- und Tierarten wahrscheinlich bald nicht mehr geben wird. Sie erleben das alles mit und versuchen, die Dinge zu verändern.

Carol Gigliotti ist emeritierte Professorin an der Emily Carr University of Art and Design in Vancouver, British Columbia. Sie ist die Herausgeberin des Buchs Leonardo’s Choice: Genetic Technologies and Animals (2009) und hat 2020 die Graphic Novel Trump and the Animals publiziert; https://graphicnovels.carolgigliotti.com/index.php/2018/12/13/trump-and-the-animals/.

[1] Vgl. Howard Gardner, Multiple Intelligences: New Horizons in Theory and Practice. New York 2006.
[2] Vgl. Annie Potts, Chicken. London 2012.